Der "Westen" und die "Strategie der Spannung&

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Wever
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Der "Westen" und die "Strategie der Spannung&

Beitrag von Wever »

Neue Zürcher Zeitung
15.12.2004, Nr. 293, S. 7

Die Geheimarmeen der Nato
Ein Forschungsprojekt der ETH Zürich


Von Daniele Ganser *

Die Analyse von staatlich organisiertem Terror in den USA und in
Europa ist noch wenig entwickelt. Um in diesem Bereich die
Komplexität des Phänomens Terror darzustellen, durchleuchtet
das Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich die Nato-
Geheimarmeen, die auch Spezialisten internationaler
Beziehungen kaum bekannt sind. Am 3. August 1990 bestätigte
der damalige Premierminister Italiens, Giulio Andreotti, die
Existenz einer Nato-Geheimarmee vor einem mit der
Untersuchung von Terroranschlägen beauftragten Ausschuss
des italienischen Senates. In Italien, so sagte Andreotti, habe
die Geheimarmee unter dem Decknamen "Gladio" (das
Schwert) als verdeckte Unterabteilung des militärischen
Geheimdienstes Sismi (Servizio per le Informazioni e la
Sicurezza Militare) operiert. Die Senatoren, die zuvor nicht über
die Geheimarmee informiert gewesen waren, übten scharfe
Kritik, bezeichneten die Geheimarmee als möglicherweise
illegal und verfassungswidrig und forderten einen schriftlichen
Bericht. Diesen legte Andreotti am 18. Oktober 1990 vor und
bestätigte, dass Gladio unter der Kontrolle des Sismi noch aktiv
sei, dass die Central Intelligence Agency (CIA) die
Gladio-Armee nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien im
Geheimen aufgebaut habe, dass ähnliche Strukturen in allen
Ländern Westeuropas existierten und dass die Nato die
Geheimarmeen koordiniere.

Staatskrise in Italien wegen Gladio

Diese Enthüllungen führten zu einer Staatskrise. Unter
öffentlichen Protesten wurde die Gladio-Geheimarmee
aufgelöst. Gewisse Militärs wie der ehemalige Direktor des
Sismi, General Vito Miceli, fühlten sich verraten. Die
Geheimarmeen, so Andreotti, wurden als Stay- behind-Netzwerk
von der Nato für den Fall einer sowjetischen Invasion von
Westeuropa aufgebaut. Die Stay-behind-Armeen verfügten über
geheime Sprengstoff- und Waffenlager und hätten im Kriegsfall
auf italienischem Territorium als antikommunistische Guerilla
die Rote Armee bekämpfen sollen.

Für die gegenwärtige Terrorismusforschung ist der Fall Gladio
deshalb relevant, weil der Untersuchungsrichter Felice Casson,
der die Zusammenhänge als Erster aufgedeckt hatte und
Andreotti zu seinem Geständnis nötigte, in Italien die "Strategie
der Spannung" an die Öffentlichkeit brachte. Aufgrund von
Dokumenten des militärischen Geheimdienstes zur "Operation
Gladio" konnte Casson beweisen, dass die Geheimarmee
neben dem äusseren Feind, der sowjetischen Armee, auch
einen inneren Feind bekämpfen musste: die starke
Kommunistische Partei (PCI) und die kleinere Sozialistische
Partei (PSI). Denn das Pentagon in Washington wie auch der
italienische militärische Geheimdienst fürchteten, dass der
Einzug der Kommunisten oder der Sozialisten in die italienische
Regierung die Nato von innen heraus schwächen würde.

Um dies zu verhindern, wurde mit der "Strategie der Spannung"
das Volk in Italien durch Terroranschläge in Angst und
Schrecken versetzt, worauf die Bevölkerung nach einem starken
autoritären Staat und mehr innerer Sicherheit verlangte.
Gleichzeitig wurden die Anschläge durch Manipulation der
Spuren durch den militärischen Geheimdienst dem politischen
Gegner in die Schuhe geschoben, um die PCI und PSI zu
diskreditieren und an der Urne zu schwächen. Diese Strategie
funktionierte und stärkte die italienische Rechte und die
Regierung der Democrazia Christiana (DCI), welche während
des ganzen Kalten Kriegs in verschiedenen Koalitionen unter
Ausschluss der PCI die Regierung bildete. Für die
rechtsextremen Terroristen, welche im Rahmen der "Operation
Gladio" die "Strategie der Spannung" ausführten und danach
durch den militärischen Geheimdienst geschützt wurden, war
das Volk ein legitimes Ziel, um indirekt die italienischen
Kommunisten zu bekämpfen.

"Man musste Zivilisten angreifen, die Männer, Frauen, Kinder,
unschuldige Menschen, unbekannte Menschen, die weit weg
vom politischen Spiel waren", erklärte Vincenzo Vinciguerra, der
von Untersuchungsrichter Casson als Täter eines Anschlages
überführt worden war. "Der Grund dafür war einfach. Die
Anschläge sollten die Menschen, das italienische Volk, dazu
bringen, den Staat um grössere Sicherheit zu bitten. Diese
politische Logik liegt hinter all den Massakern und
Terroranschlägen, welche ohne richterliches Urteil bleiben, weil
der Staat sich nicht selber verurteilen kann, er kann sich nicht
selber für das Geschehene verantwortlich erklären."

Proteste der EU

Während die amerikanische Regierung von Präsident George
Bush senior, die Nato und die CIA jeglichen Kommentar
gegenüber den italienischen Senatoren verweigerten,
protestierte das Parlament der Europäischen Union sehr heftig,
als die geheimen Stay-behind-Armeen entdeckt wurden.
"Dieses Europa wird keine Zukunft haben, wenn es nicht auf der
Wahrheit und der vollständigen Transparenz seiner Institutionen
aufgebaut wird", betonte der italienische Parlamentarier Falqui
in der Sonderdebatte der EU am 22. November 1990. "Daher
müssen wir wissen, welche und wie viele Gladio-Netzwerke es
in den Mitgliedstaaten der EU gibt." Der französische
Parlamentarier Dury teilte diese Bedenken und erklärte: "Was
uns am meisten an dieser Gladio-Affäre beunruhigt, ist die
Tatsache, dass diese Netzwerke unsichtbar und ohne jede
Kontrolle der demokratischen Vertreter existieren konnten."
Darauf verurteilte das EU-Parlament mit einer Resolution,
gerichtet an die USA und die Nato, die Geheimarmeen scharf
und forderte die Mitgliedstaaten dazu auf, ihre nationalen
Geheimarmeen genau und öffentlich zu untersuchen.

Gescheiterte Debatte

Nicht nur die USA, sondern auch die Länder Europas taten sich
jedoch schwer, das Thema der Nato-Geheimarmeen
demokratisch und öffentlich zu bewältigen. Die Verbindungen
zum Terror sind bis heute höchst brisant; zudem bereiteten sich
1990 viele europäische Länder zusammen mit den USA auf
einen Krieg gegen Saddam Hussein vor. Die Regierung
François Mitterrands bestätigte die Existenz einer
Geheimarmee in Frankreich erst, nachdem Andreotti darauf
hingewiesen hatte, dass auch französische Generäle am letzten
internationalen Stay- behind-Treffen des zuvor unbekannten
Allied Clandestine Committee (ACC) der Nato am 23. und 24.
Oktober 1990 in Brüssel teilgenommen hatten.

In Deutschland wollte die oppositionelle sozialdemokratische
SPD das Thema der Nato- Geheimarmeen als Plattform gegen
die regierende CDU von Bundeskanzler Helmut Kohl aufbauen,
um kurz vor den ersten gesamtdeutschen Wahlen nach dem
Mauerfall und der Wiedervereinigung Stimmen zu gewinnen.
Nachdem bekannt geworden war, dass ehemalige
SS-Angehörige im deutschen Stay-behind aktiv waren,
bezeichnete der SPD- Sicherheitsexperte Hermann Scheer die
Geheimarmee in Deutschland als "Ku Klux Klan" und forderte
das Einschreiten der Justiz. Darauf wies die CDU Scheer darauf
hin, dass auch SPD- Verteidigungsminister Helmut Schmidt, der
spätere Bundeskanzler, das Stay-behind- Geheimnis während
seiner Zeit in der Regierung gehütet hatte, worauf die SPD im
Parlament zusammen mit der CDU für eine Untersuchung
hinter verschlossenen Türen stimmte.

In Belgien forderte der sozialistische Verteidigungsminister Guy
Coeme selbst eine rasche parlamentarische Untersuchung, mit
dem spezifischen Auftrag zu klären, ob die belgische Nato-
Geheimarmee in den sogenannten Brabant-Terror der 1980er
Jahre verwickelt war, bei dem Menschen in Einkaufszentren
wahllos erschossen wurden.

Die Senatoren bestätigten in ihrem öffentlichen
Abschlussbericht, dass unter dem Decknamen SDRA8 auch in
Belgien als Untereinheit des militärischen Geheimdienstes
SGR (Service Général de Renseignement) eine
Stay-behind-Geheimarmee aktiv war. Es war ihnen aber nicht
möglich, die Frage nach der Verbindung mit dem Terror
abschliessend zu beantworten, da sich SGR-Direktor Bernard
Legrand strikt weigerte, die Namen der SDRA8-Mitglieder zu
veröffentlichen; dies, obschon die Senatoren betonten, dass die
Exekutive ihnen gemäss der Verfassung antworten müsse, und
obschon innerhalb der Exekutive der Vorgesetzte von Legrand,
Verteidigungsminister Coeme, die Freigabe der Namen explizit
angeordnet hatte.

In Spanien erklärte der ehemalige Verteidigungsminister Alberto
Oliart, dass es "kindisch" sei zu fragen, ob unter der Diktatur von
Franco eine geheime konservative Armee im Land existiert
habe: "Hier war Gladio die Regierung." In Griechenland, so
erklärte der ehemalige Premierminister Andreas Papandreou,
habe er schon 1984 eine geheime Nato-Armee entdeckt und
darauf aufgelöst. Während die Presse über eine Verwicklung der
Geheimarmee in den Militärputsch von 1967 spekulierte,
bestätigte der ehemalige Verteidigungsminister Nikos Kouris,
dass ähnlich wie bei Gladio in Italien auch in Griechenland die
CIA direkte Verbindungen zum Stay-behind- Netzwerk unterhielt.
P-26 in der Schweiz Die neutralen Länder Schweiz, Schweden,
Österreich und Finnland hatten am Ende des Kalten Krieges
aus verständlichen Gründen Mühe, die doppelte Frage zu klären,
ob es in ihrem Land eine Stay-behind-Geheimarmee gebe oder
gegeben habe und ob diese Teil des Nato- Netzwerkes
gewesen sei. In Schweden mochte die Regierung nicht auf das
Thema eingehen, während der ehemalige CIA-Direktor William
Colby die Existenz eines Stay- behind-Netzes im Land
bestätigte. In Österreich fragte 1991 der grüne Parlamentarier
Peter Pilz die Regierung nach "Aktivitäten des Geheimdienstes
Gladio, oder eines anderen, der Nato nahestehenden
Nachrichtendienstes, auf österreichischem Territorium", worauf
das Innenministerium und das Verteidigungsministerium die
Existenz einer Geheimarmee verneinten. Fünf Jahre später
wurden jedoch die vorher geheimen CIA-Waffenlager des
österreichischen Stay-behind-Netzes entdeckt, worauf
Bundespräsident Klestil und Kanzler Vranitzky heftig gegen die
Verletzung der Neutralität gegenüber den USA protestierten.

In Finnland, wo die Besetzung durch die Sowjetunion das
Denken der militärischen Strategen prägte, wollten nach dem
Ende des Kalten Krieges weder das Parlament noch die
Regierung das sensible Thema der Nato-Geheimarmeen
besprechen. Verteidigungsministerin Elisabeth Rehn erklärte,
sie halte das alles für "ein Märchen" oder "zumindest für eine
unglaubliche Geschichte, von der ich nichts weiss". Dave
Whipple, der die CIA-Station in Helsinki von 1970 bis 1976
geleitet hatte, bestätigte jedoch in den USA, dass auch Finnland
Teil des Nato- Netzwerkes war.

Nur Italien, Belgien und die Schweiz haben gemäss
demokratischen Prinzipien ihre Geheimarmeen durch
parlamentarische Kommissionen untersuchen lassen und
einen öffentlichen Abschlussbericht präsentiert. Die PUK EMD
wurde in der Schweiz im Kontext der Fichenaffäre eingesetzt
und bestätigte in ihrem Abschlussbericht im November 1990 die
Existenz der Widerstandsorganisation P-26, die gemäss dem
Bericht Cornu von 1991 nicht mit der CIA, sondern mit dem
britischen Geheimdienst MI6 und den britischenSpecial Forces
SAS kooperierte.

Sicherheitsnetz oder Terrorzellen?

Die Forschung zum internationalen Terrorismus hat erst kürzlich
begonnen, die nur beschränkt zugänglichen internationalen
Daten zu den Nato-Geheimarmeen genauer zu evaluieren. Wer
sich mit dem Thema beschäftigt, stösst dabei unweigerlich auf
die Grundfrage, ob es sich bei diesem Phänomen um ein
Sicherheitsnetz oder um Terrorzellen gehandelt hat. Die nur
scheinbar paradoxe Antwort auf diese Grundfrage lautet: beides.
Die Nato-Geheimarmeen waren sowohl ein Sicherheitsnetz als
auch Terrorzellen. Die Unterschiede ergaben sich aus dem
nationalen Kontext, da die Daten von Land zu Land sehr stark
variieren. Wer auf der Basis der Daten aus Italien arbeitet, muss
schliessen, dass die Nato- Geheimarmeen Terrorzellen waren,
die ähnlich den Schläferzellen der Kaida plötzlich durch
Terroranschläge Angst und Schrecken verbreiteten, um dadurch
die Bevölkerung zu manipulieren und den politischen Feind zu
bekämpfen.

Wer hingegen auf der Basis der Daten zu den Geheimarmeen
von Norwegen, Dänemark, Holland, Luxemburg oder der
Schweiz arbeitet, muss zum Schluss kommen, dass hier ein
Sicherheitsnetz aufgebaut wurde, welches im Falle einer
Invasion und Besetzung des Landes möglicherweise von
grossem Wert gewesen wäre. Basierend auf der Erfahrung der
Besetzungen im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche
Wehrmacht wollten die Strategen in vielen europäischen
Ländern unbedingt für den nächsten Ernstfall vorsorgen.

* Daniele Ganser ist Senior Researcher am Center for Security
Studies (CSS) der ETH Zürich. Seine Monographie "NATO's
Secret Armies. Operation Gladio and Terrorism in Western
Europe" erscheint beim Frank-Cass-Verlag in London. Weitere
Informationen über das CSS-Forschungsprojekt über
www.isn.ethz.ch/php.
"Es gibt eine Form von Toleranz beim Menschen, die nichts anderes ist als ein Mangel an Würde." Joseph Schumpeter
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